Fang den Wind! Ein etwas anderer Bericht vom Dr.-Günter-Sparr-Gedächtnispreis
In meiner Kindheit in Myanmar, dem früheren Birma, habe ich oft Figuren in Zeichentrickfilmen gesehen, die Schmetterlinge mit einem Netz an einem Stock fingen. Jetzt konnte ich auf der Unterhavel in Berlin Ähnliches beobachten. Nur sind es dort keine Kinder gewesen, sondern Erwachsene. Sie schwingen fünf Fuß lange Alurohre, so genannte Spinnakerbäume, die an beiden Enden mit Clips versehen sind, vom Vordeck eines Bootes aus. Statt Schmetterlinge fangen sie mit dem Alurohr, mit dem ein großes, oft buntes Ballonsegel geführt wird, Luft ein. Ja, Luft, die für das bloße Auge unsichtbar ist. Und ich gehöre auf dem Vordeck eines H-Bootes bei dieser Regatta zu denjenigen, die helfen, möglichst viel Wind einzufangen.
Am 20. und 21. Mai haben wir uns bei strahlendem Sonnenschein aufgemacht, auf der Havel den Wind einzufangen. Der diktierte jeden unserer Schritte auf der Suche nach seinem Aufenthaltsort und seinen wechselnden Eigenschaften bei der Regatta, den die Seglervereinigung 1903 Berlin (SV03) organisiert hatte. Insgesamt traten 10 H-Boote und 16 nordische Folkeboote zu jeweils fünf Wettfahrten an.
Als H-Boot-Vorschoter bestand meine Hauptaufgabe darin, beim Setzen und Bergen des Spinnakers mit dem Alurohr zu hantieren und beim Kreuzen in einer Wende die Fock in Kooperation mit dem anderen Vorschoter auf die neue Seite zu ziehen und optimal einzustellen.
Bei uns an Bord waren wir drei zur Verständigung auf zwei Sprachen angewiesen, denn nur eine Person sprach sowohl Englisch wie Deutsch, während ich nur Englisch, aber kein Deutsch spreche und der andere Vorschoter sich mit Englisch schwer tut. Während des Wettkampfes beschränkte sich unser Wortschaft deshalb nur auf die aller-, allerwichtigsten Stichworte. Es war schlicht keine Zeit für Übersetzungen oder lange Erklärungen. So ertönte etwa bei der Annäherung an die Luftonne einfach nur der Ruf „Boom, boom!“
Normalerweise würde ich „Boom, boom!“ vielleicht mit der Actionfigur James Bond 007 in Verbindung bringen. Aber für mich war es die so knappe wie klare Ansage, schnell aufs Vordeck zu gehen. Ich kniete neben dem Mast, griff den Spibaum („boom“) von der Unterseite des Großbaums und machte mich zum Bug auf, griff das grüne Seil, das am Spinnaker befestigt ist, hakte es in den „Boom“ und befestigte dann den andere Clip des nach vorn gedrückten Spibaums an einen Metallring etwa in fünf Fuß Höhe am Mast. Während dabei von hinten schon der Spinnaker gesetzt wurde, zog ich an seiner grünen Schot und innerhalb weniger Sekunden war der ganze Vorgang abgeschlossen, was die große Bedeutung von Schnelligkeit und Präzision unterstreicht.
Erstaunlicherweise lagen wir nach dem ersten Tag mit seinen drei Wettfahrten sogar an erster Stelle. Das lag aber nur daran, dass Holger Köhne und sein Team Sven Ulrich und Jan Köhne (GER 1010), die alle Wettfahrten klar dominierten und stets als erste durchs Ziel gingen, beim ersten Rennen einen nicht bereinigten Frühstart hatten und so ohne Streicher zunächst noch nicht in Führung gingen. Mit unserem erneuten zweiten Platz in der vierten Wettfahrt konnten wir aber auch wieder sehr zufrieden sein, während wir im letzten Rennen ziemlich patzten. Aber immerhin belegten wird hinter dem Team Köhne und dem Team Hans-Peter Fink, Tobias Fink und Sven Olaf Fischer (GER 1650) insgesamt den dritten Platz.
Ehrlich gesagt erfüllte mich der Beifall bei der Preisverleihung, als der Wettfahrtleiter unser Team aufrief, mit Freude und Stolz. Jeder von unserer Mannschaft bekam ein Glas mit dem eingravierten H-Boot-Symbol und dem des SV03. Es war meine erste Auszeichnung bei einer Regatta überhaupt und wird mir ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Zurzeit fühle ich mich angesichts des Militärregimes in meiner Heimat staatenlos und weiß nicht, wohin mich meine Reise noch führen wird. Ich bin jedoch sicher, dass diese Medaille in meiner Nähe bleiben wird. Derzeit hat sie einen prominenten Platz am Kopfende meines Bettes. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, gibt sie mir Kraft und stärkt meine Entschlossenheit.
Seit meiner Ankunft in Deutschland sind nun eineinhalb Jahre vergangenen. Vor mehr mehr als einem Jahr bin ich das erste Mal auf der Havel mitgesegelt. In Myanmar, meiner Heimat in Südostasien, ist Segeln kein weit verbreiteter Sport. Für die normale Bevölkung ist es eine sehr weit entfernte Beschäftigung. Meine Segelreise hat gerade erst begonnen, ich habe noch nicht oft im Boot gesessen. Dennoch ist Segeln inzwischen ein fester Bestandteil meines Lebens hier geworden. Ich habe gelernt zu beurteilen, ob der Wind zum Segeln ausreicht. Ich beobachte die Wolken, den Zustand des Wassers und erkenne die Böen. Ich verstehe den Unterschied zwischen günstigem und ungünstigem Wind und weiß, was es bedeutet, zu kreuzen und Großsegel und Fock zu balancieren.
Segeln mag wie der Antrieb eines Bootes auf dem Wasser erscheinen. Aber in meinem Kopf fühlt es sich an, als würde ich in der Luft schweben. In Wahrheit ist die Grenze zwischen dem Schweben auf dem Wasser und dem Schweben in der Luft fließend. Anders ausgedrückt: Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass Segeln die Kunst verkörpert, das schwer fassbare Wesen des Windes einzufangen.
Kyaw Soe (GER 646)